„Warum fällt es so schwer, gesunde Grenzen mit Familienmitgliedern zu setzen?“
- Laura Wegmann
- 25. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Wenn Nähe zu Schuld wird und Abgrenzung sich wie Verrat anfühlt.

Du weißt eigentlich, dass dir der Kontakt nicht guttut. Vielleicht fühlst du dich nach einem Gespräch mit deiner Mutter erschöpft, verwirrt oder klein.
Vielleicht rufst du deinen Vater an – nicht, weil du willst, sondern weil du glaubst, du müsstest.
Vielleicht lässt du Grenzverletzungen deiner Schwester durchgehen, die du bei anderen nie tolerieren würdest.
Und doch ist da etwas in dir, das nicht klar „Nein“ sagen kann. Etwas, das bleibt, schweigt, nachgibt – und sich danach selbst verurteilt. Warum ist das so?
Warum fällt es uns ausgerechnet mit der eigenen Familie so schwer, für uns einzustehen?
1. Weil es mehr ist als ein „Nein“ – es ist ein innerer Loyalitätskonflikt
Wenn du „Nein“ zu einem Familienmitglied sagst, sagst du nicht nur „Nein“ zur Situation.
Du sagst auch (gefühlt):
„Ich nehme Abstand zu dir.“
„Ich erkenne an, dass mir das schadet.“
„Ich will mich nicht mehr klein machen.“
Und damit bricht etwas, das früher überlebenswichtig war: die Bindung.
Selbst wenn du heute erwachsen bist, wirkt dieser Konflikt weiter:
„Wenn ich mich distanziere, bin ich nicht mehr Teil der Familie.“
„Dann bin ich undankbar, abgehoben, egoistisch.“
„Dann bin ich allein.“
2. Weil du als Kind vielleicht gelernt hast, dass Verbindung Anpassung bedeutet
Vielleicht warst du das ruhige, vernünftige Kind.
Das, das verstanden hat, das geschwiegen hat, das vermittelt hat.
Du hast gelernt:
„Ich bin sicher, wenn ich keine Probleme mache.“
„Ich bin geliebt, wenn ich funktioniere.“
Wenn du als Kind emotionale Verantwortung übernommen hast, ist es heute schwer, sie wieder abzugeben.
Ein „Nein“ fühlt sich dann nicht wie Selbstfürsorge an – sondern wie ein Bruch mit deinem damaligen Überlebensmuster.
3. Weil dein System Hoffnung nicht aufgibt – auf Heilung, Nähe, endlich gesehen werden
Vielleicht kennst du diesen Gedanken: „Wenn ich nochmal geduldig bin … wenn ich nochmal zuhöre … wenn ich es anders erkläre – dann versteht sie mich vielleicht endlich.“ „Dann wird es leichter. Dann ändert sich was.“
Diese Hoffnung kommt nicht aus dem Verstand. Sie kommt aus einem tiefen, kindlichen Teil in dir. Dem Teil, der sich nach Nähe sehnt. Dem Teil, der nie wirklich gesehen wurde. Dem Teil, der immer noch hofft: „Es könnte doch noch gut werden.“
Und dieser Teil steht zwischen dir und deiner Grenze.
4. Weil sich Grenzen setzen wie Verlust anfühlt – nicht wie Gewinn
Viele Menschen mit Bindungsverletzungen erleben gesunde Abgrenzung nicht als etwas Stärkendes – sondern als etwas Schmerzhaftes.
Ein Nein kann sich anfühlen wie:
„Ich bin böse.“
„Ich enttäusche sie.“
„Ich bin ganz allein.“
Das liegt nicht daran, dass du irrational bist.
Sondern daran, dass dein Nervensystem Nähe mit Pflicht, Angst oder Schuld verknüpft. Wenn du heute eine Grenze setzt, aktiviert sich unbewusst der alte Schmerz: „Ich bin nicht mehr Teil. Ich bin unverbunden.“
5. Weil du mit jeder Grenze ein Stück Realität anerkennen musst
Und das tut weh.
Grenzen zeigen dir:
Dass deine Familie vielleicht nicht geben kann, was du brauchst.
Dass nicht jede Beziehung heilbar ist.
Dass du heute Verantwortung für dich selbst übernehmen musst – auch wenn du damals keine Wahl hattest.
Grenzen machen dich erwachsen. Und das kann schmerzhaft sein. Weil du damit anerkennen musst:
„Was ich gebraucht hätte, kam nicht. Und es wird vielleicht auch nicht mehr kommen.“ Doch genau da liegt auch der Schlüssel für Heilung.
Was du wissen darfst:
Es ist normal, dass du ambivalent bist.
Es ist menschlich, sich zu fragen, ob du zu hart oder zu weich bist.
Und es ist okay, diesen Prozess in kleinen Schritten zu gehen.
Deine Grenze muss kein Schlagbaum sein. Sie kann ein sanftes, aber klares: „So weit und nicht weiter.“
„Ich darf gut mit mir sein, auch wenn das andere irritiert.“ Du darfst die Schuld, die Scham, die Unsicherheit fühlen und trotzdem stehen bleiben. Nicht gegen deine Familie – sondern für dich.
Wenn du Unterstützung brauchst, deine Grenzen nicht nur zu verstehen, sondern zu verkörpern – dann begleite ich dich gern.
Denn Grenzen setzen heißt nicht, die Verbindung zu verlieren. Es heißt, die Verbindung zu dir selbst wiederzufinden.
Laura Wegmann