Kindheitstrauma, Dissoziation und Scham
- Laura Wegmann

- 24. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
Viele Menschen kennen dieses unsichtbare, schwere Gefühl: Scham.
Es ist nicht die kleine Scham, wenn man etwas Peinliches sagt. Es ist die existenzielle Überzeugung: „Mit mir stimmt etwas nicht. Ich bin falsch. Ich bin zu viel.“
Eine aktuelle Studie (Eur. J. Investig. Health Psychol. Educ. 2025, 15(8), 151) zeigt eindrücklich, warum Scham so stark mit belastenden Kindheitserfahrungen verbunden ist und warum sie sich bis ins Erwachsenenalter bemerkbar macht.
Die Ergebnisse der Studie
Die Forschenden wollten wissen:
Wie hängen Kindheitstrauma und Scham im Erwachsenenalter zusammen?
Spielt Dissoziation – das Abspalten von Gefühlen, Gedanken oder Körperempfindungen – dabei eine Rolle?
Dafür wurden 763 Erwachsene befragt.
Ergebnis:
Menschen mit belastenden Kindheitserfahrungen berichten von mehr Scham.
Gleichzeitig zeigen sie häufiger dissoziative Muster.
Dissoziation wiederum hängt selbst mit Scham zusammen.
Ein Teil des Zusammenhangs verläuft also indirekt: Trauma → Dissoziation → Scham.
Die Forschenden schreiben:
Dissoziation könnte die Tendenz verstärken, unbewusst immer wieder Selbstabwertung und Selbstbeschuldigung zu wiederholen und so Scham zu vergrößern.
Was ist Dissoziation?
Dissoziation ist ein Schutzmechanismus. Wenn etwas zu überwältigend ist z.B. ein Gefühl, eine Erinnerung, eine Situation – trennt unser Nervensystem Teile des Erlebens ab.
Das kann so aussehen:
Gefühle sind plötzlich wie „weg“ – innere Taubheit.
Man fühlt sich, als stünde man neben sich oder sähe das Leben wie einen Film.
Man erinnert sich an Dinge nur bruchstückhaft.
Man spürt den eigenen Körper nicht richtig.
Für Kinder in bedrohlichen Situationen ist das überlebenswichtig. Aber später im Leben führt es dazu, dass Gefühle unverdaut bleiben.
Warum entsteht Scham? Die innere Kette
Kommt erst Wut oder Trauer, dann Dissoziation und dann später Scham?
Und warum gerade Scham?
Genau so lässt es sich verstehen:
Kind fühlt Wut oder Trauer. Das wären eigentlich gesunde Reaktionen: „Etwas stimmt nicht.“
Gefühle werden nicht erlaubt. Eltern bestrafen Wut („Hör sofort auf!“) oder ignorieren Trauer („Stell dich nicht so an“). Botschaft: „So wie du fühlst, bist du falsch.“
Dissoziation setzt ein. Das Kind spaltet die Gefühle ab, um die Bindung zu den Eltern nicht zu gefährden.
Scham entsteht als Erklärung. Kinder können nicht denken: „Meine Eltern haben versagt.“ Stattdessen drehen sie es um: „Mit mir stimmt etwas nicht. Ich bin schuld.“
👉 Wut und Trauer richten sich nach außen.
👉 Scham richtet sich nach innen und hält so die Bindung aufrecht.
Warum Erwachsene noch immer Scham fühlen
Viele meiner Klientinnen sagen:
„Ich weiß doch objektiv, dass es nicht stimmt und trotzdem schäme ich mich.“
Das wirkt widersprüchlich, ist aber die Folge der alten Dynamik:
Die Dissoziation hat die Gefühle nie verdauen lassen. Der abgespaltene „Kind-Teil“ lebt weiter und hält an seiner Erklärung fest.
Scham wurde zur Standard-Erklärung. Bei Konflikten, Nähe oder Stress springt automatisch die Botschaft „Ich bin falsch“ an.
Der Verstand weiß es, der Körper nicht. Das Erwachsenen-Ich versteht, dass die Schuld nicht bei ihm lag. Doch das Nervensystem reagiert so, als wäre man wieder Kind.
Die Dissoziation trennt bis heute. Weil die alten Gefühle abgespalten bleiben, kann man sie nicht neu bewerten und so bleibt die Scham als Dauerzustand.
Die Tonband-Metapher
Man kann es sich vorstellen wie ein altes Tonband. In der Kindheit wurde eine Botschaft aufgenommen: „Du bist schuld. Mit dir stimmt etwas nicht.“
Dissoziation war der Schalldämpfer – das Band lief weiter, aber unhörbar im Hintergrund.
Heute springt es in bestimmten Momenten an: ein Streit, ein Gefühl von Ablehnung, ein Blick und plötzlich spürt man wieder diese Scham.
Der Kopf weiß längst: „Das stimmt nicht mehr.“
Aber das Tonband läuft weiter, solange es nicht bewusst gehört, verstanden und neu besprochen wird.
Warum Scham so „schlimm“ für uns ist
Die Studie macht deutlich, warum die Kombination aus Trauma, Dissoziation und Scham so belastend ist:
Scham greift Identität an. Sie greift nicht nur Verhalten an, sondern das ganze Selbst.
Dissoziation verhindert Verarbeitung. Gefühle bleiben unverdaut, alte Überzeugungen bleiben bestehen.
Dauerstress fürs Nervensystem. Abspaltung kostet Kraft, macht müde, verstärkt Einsamkeit.
Beziehungen werden schwerer. Wer überzeugt ist, „falsch“ zu sein, zieht sich zurück und erlebt neue Zurückweisung.
Scham braucht Beziehung
Scham ist ein Beziehungsgefühl! Sie entsteht, weil wir fürchten, im Kontakt abgelehnt zu werden. Deshalb kann sie sich nur in Beziehung auflösen.
Dissoziation trennt – Beziehung verbindet.
Spiegelung verändert innere Überzeugungen. Was als Kind gefehlt hat – „Du bist okay, auch mit diesen Gefühlen“ – kann heute im sicheren Kontakt nachgeholt werden.
Scham löst sich nur im Angesehen-Werden. Paradoxerweise verschwindet sie, wenn wir uns mit ihr zeigen und erleben: „Ich werde trotzdem gehalten.“
Der Kreislauf: Warum viele keine Hilfe suchen
Tragisch ist: Viele Betroffene holen sich keine Hilfe. Warum?
Scham blockiert Offenheit. „Wenn ich mich zeige, merken alle, wie defekt ich bin.“
Hilfesuche wird als Defekt gedeutet. „Wenn ich Unterstützung brauche, heißt das, ich bin kaputt.“
Abspaltung als Rückzug. Statt Hilfe zu suchen, schaltet wieder das alte Muster ein: Gefühle wegdrücken, weitermachen.
So entsteht ein Kreislauf:
Kindheitstrauma → Scham → keine Hilfe → neue Abspaltung → noch mehr Scham.
Ausstieg aus dem Kreislauf
Die gute Nachricht: Es gibt Wege hinaus –Schritt für Schritt.
1. Scham entlarven
Scham ist ein altes Gefühl, kein Beweis deiner Identität.
„Das ist ein altes Programm, keine Wahrheit über mich.“
2. Sanft spüren statt verdrängen
Dissoziation unterbrechen, indem man den Körper ins Hier holt.
Füße auf den Boden, bewusst atmen, 3 Dinge im Raum benennen.
3. Scham in Verbindung bringen
Mit vertrauten Menschen teilen oder zuerst mit einer Therapeut:in.
„Ich schäme mich gerade, das zu sagen … und trotzdem will ich es dir erzählen.“
4. Den Kind-Teil würdigen
Der Teil, der sich schämt, hat dich einst geschützt.
„Danke, dass du mich damals getragen hast. Heute darf ich neue Erfahrungen machen.“
5. Neue Erfahrungen abspeichern
Heilung passiert, wenn du spürst: „Ich habe mich gezeigt und ich wurde nicht verstoßen.“
6. Hilfe neu bewerten
Hilfe suchen heißt nicht, defekt zu sein. Es heißt: Mut.
„Ich erlaube mir, nicht mehr alles alleine tragen zu müssen.“
Hoffnungsperspektive
Scham fühlt sich an wie ein Urteil über dein Wesen. In Wahrheit ist sie das Echo alter Erfahrungen und der Beweis, dass dein Nervensystem dich einst schützen wollte.
Dissoziation und Scham sind Überlebensstrategien. Sie haben dich durchgebracht.
Heute aber darfst du lernen, neue Erfahrungen zu machen: präsent sein, dich zeigen, in Beziehung gehalten werden.
Das alte Tonband kann neu überspielt werden.
Mit Botschaften wie: „Ich bin nicht falsch. Ich war ein Kind, das etwas Schweres erlebt hat. Und heute darf ich da sein – ganz.“

